Marisa Maraldi, die in einem kleinen Ort der Emilia-Romagna, in Martorano bei Cesena lebte, schickte ihre Liebespost beharrlich nach St. Johann in Tirol, wo der Empfänger aber nicht mehr anzutreffen war.
»Piero carissimo … tanti saluti e baci tua Marisa«
(30. Juni 1944)
Ihr Piero (Kosename) hieß Pietro PIRONI. Er war 22 Jahre jung, Student und Aktivist der 8a Brigata Garibaldi Romagna, des Befreiungskampfes gegen die deutsche Besatzung Italiens, ehe er im April 1944 seiner Freiheit beraubt und in das Deutsche Reich verschleppt wurde.
Marisa Maraldi wusste nicht, dass ihr geliebter Piero seit Mai 1944 in Schönau an der Enns zur Arbeit gezwungen war und im Juni 1944 mit fünf Genossen aus der Toskana vergeblich versucht hatte, über den Krimmler Tauern nach Italien zu flüchten.
Marisa Maraldi konnte ebenso wenig wissen, dass ihr Piero am 2. August 1944 in Salzburg mit dem Tode bestraft und zwecks Exekution nach München deportiert worden war.
Die italienische Post wurde dem Häftling Pietro PIRONI ordnungsgemäß in das Strafgefängnis hinterhergeschickt, wegen des mehrmaligen Ortswechsels und der widrigen Kriegsbedingungen aber mit erheblicher Verspätung.
Ungewiss ist daher, ob er alle Briefe und Postkarten mit dem Aufdruck »VINCEREMO« (wir gewinnen) in seiner Todeszelle zu lesen bekam, ehe er am 29. August 1944 um 17.01 Uhr in München-Stadelheim geköpft wurde.
Am 25. April 1945 endete der italienische Befreiungskampf: »la vittoria della Resistenza Italiana sui nazifascisti«.
Im Mai 1945 erreichte eine Postsendung mit neunmonatiger Verspätung ihren Bestimmungsort in der Emilia-Romagna: Pietro PIRONIS Abschiedsbrief an seine »carissima Marisa«, die ihren Piero als »ribelle per amore« in Erinnerung behielt.
Die vermutlich zu spät in München eingetroffenen Liebesbriefe aus Italien liegen noch in der Vollstreckungsakte, die das Bayerische Hauptstaatsarchiv aufbewahrt.
In den Münchner Akten befinden sich außerdem Exemplare der hektographierten Todesurteile, andernfalls bliebe die Identität vieler Opfer der Salzburger NS-Justiz ungeklärt, weil die Strafakten des »Sondergerichtes« Salzburg – in fünfeinhalb Kriegsjahren 71 Todesurteile vorwiegend in München-Stadelheim vollstreckt – mittlerweile größtenteils »skartiert«, somit vernichtet wurden.
Auch die Personalien der am 2. August 1944 in Salzburg mit dem Tode bestraften drei italienischen Staatsbürger sind ausschließlich in den Münchner Vollstreckungsakten zu finden:
• Pietro PIRONI, geboren am 22. Februar 1922 in Cesena, Emilia-Romagna, Sohn des Ehepaares Malvina und Primo Pironi aus Gattolino, ledig, Student der Philosophie und abgeleisteter Militärdienst;
• Giuliano SBIGOLI, geboren am 22. Oktober 1923 in Florenz, Toskana, Sohn des Ehepaares Agostina und Gino Sbigoli aus Florenz, ledig, Mechaniker und abgeleisteter Militärdienst;
• Remo SOTTILI, geboren am 23. August 1911 in Regello bei Florenz, Toskana, Sohn des Ehepaares Ida und Guido Sottili aus Donnini di Regello, verheiratet mit Clementina Curioli aus Ferrara, Vicebrigadiere der Polizei in Bologna und abgeleisteter Militärdienst.
Ohne Vollstreckungsakten mit Gerichtsurteilen wüssten wir ebenso wenig, dass am 2. August 1944 in Salzburg fünf Italiener vor Gericht gestellt und davon zwei von der Anklage freigesprochen wurden:
• Goffredo BONCIANI, geboren am 7. Februar 1922 in Florenz, Toskana, ledig, Student der Rechte und abgeleisteter Militärdienst;
• Vasco POGGESI, geboren am 29. August 1922 in San Giovanni bei Arezzo, Toskana, ledig, Elektriker und abgeleisteter Militärdienst.
Da auch die freigesprochenen Italiener die Terrorjahre nicht überlebten, lässt sich das Geschehen nur anhand des Gerichtsurteils KLs 76/44 vom 2. August 1944 rekonstruieren.
Eine Straftat vermochte das Gericht nur im Handeln der Italiener zu erblicken, während staatliche Gewaltakte im Urteil als nicht existent erscheinen. Das Gericht registrierte zwar den Militärdienst der Italiener, aber nicht ihre Verschleppung unter der deutschen Besatzung Italiens.
Die als »Zivilarbeiter« (Zwangsarbeiter) oder als »Militärinternierte« (Kriegsgefangene) kategorisierten Italiener konnten wegen der Delikte Arbeitsvertragsbruch und Flucht – Verweigerung der Zwangsarbeit – von der Gestapo und Justiz verfolgt werden.
Deswegen wurden die fünf Italiener aber nicht vor Gericht gestellt. Aus welchen Gründen sonst?
Mit Ciriaco Santoni, dessen Daten unbekannt sind, waren es sechs Italiener, die am 3. Juni 1944 ihren Arbeitsplatz im oberösterreichischen Ennstal verließen, mit der Bahn nach Tirol reisten, von dort zu Fuß in das Pinzgauer Salzachtal liefen, um über den Krimmler Tauern nach Italien zu gelangen. Sie wollten nach Hause gehen, wurden daran aber am 9. Juni 1944 von einem Gendarmen gehindert.
Mit welcher Begründung? Weil sie geflüchtete Zwangsarbeiter und überdies als Italiener verdächtig waren?
Italiener galten schon seit dem Ersten Weltkrieg als Verräter – doch letztlich wegen des Frontwechsels Italiens am 8. September 1943 unter seinem Ministerpräsidenten Pietro Badoglio: Italien als Verräter und Feind.
Faktum ist, dass Italiens Hauptstadt Rom am 4. Juni 1944 von der deutschen Fremdherrschaft befreit werden konnte – wenige Tage vor der Festnahme der sechs Flüchtlinge im Salzachtal, im Hinterland der näher rückenden Fronten, der Befreiungskämpfe der »Resistenza italiana« zum einen, der Massaker von SS-Kommandos an Partisanen und Zivilisten zum anderen.
Im Urteil KLs 76/44 wird aber das Kriegsgeschehen südlich der Alpen verdunkelt und bloß bemerkt, dass »die Gewalttat in einer einsamen Gebirgsgegend während der Kriegszeit« von einer »Übermacht« Italiener verübt worden sei – nach dieser Lesart eine im Rücken der Front wahrgenommene Bedrohung durch sechs Angehörige eines Verräter- und Feindlandes.
Ciriaco Santoni, im Urteil als »Anführer« apostrophiert, soll sich bei seiner Festnahme am 9. Juni 1944 auf einem Waldweg bei Krimml gewehrt, den mit einer Pistole bewaffneten Gendarmen attackiert haben. Gewiss ist jedenfalls, dass der unbewaffnete »Anführer« durch zwei Schüsse in den Kopf getötet wurde.
Der uniformierte Todesschütze soll daraufhin mit Zaunlatten angegriffen worden sein: Not- oder Gegenwehr der Italiener, doch für die Staatsgewalt war es gewaltsamer Widerstand, weshalb die Italiener als »öffentliche Gewalttäter« galten.
Ihre Bedrängnisse und Fluchtmotive waren hingegen nicht von Belang, ebenso wenig die Todesschüsse in den Kopf des Ciriaco Santoni, der wie alle ehrlos gemachten Opfer anonym verscharrt wurde. (Die Identität des Opfers konnte mittlerweile dank der Information seines Enkels Paul geklärt werden: Ciriaco Santoni, geboren am 29. Januar 1902 in Madonna di Fornelli, Emilia-Romagna, verheiratet mit Andreina Caporali, Kinder Valleda und Fernando).
Mit der Vernichtung der Strafakte KLs 76/44 gingen die Einvernahmen und die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft verloren. Anzunehmen ist aber, dass Dr. Stephan Balthasar, österreichischer Jurist und Oberstaatsanwalt in Salzburg, die Anklage erhob, die Todesstrafe forderte und die dazu nötigen Paragraphen vorlegte.
Diese stehen jedenfalls im siebenseitigen Gerichtsurteil, das sich in den Münchner Vollstreckungsakten befindet.
Verbürgt ist somit, dass am 2. August 1944 im Salzburger Justizgebäude am Rudolfsplatz, der unter dem NS-Regime den Namen des prominenten deutschnationalen Burschenschafters und Antisemiten Georg von Schönerer führte, der Strafprozess gegen die fünf Italiener stattfand.
Die Richter des »Sondergerichtes« waren ausnahmslos österreichische Juristen, allerdings mit deutschen Amtstiteln: »Landgerichtsrat« Dr. Franz Tusch als Vorsitzender, »Landgerichtsrat« Dr. Matthias Altrichter und »Amtsgerichtsrat« Anton Niedermayr als Beisitzer, außerdem Staatsanwalt Dr. Rolf Blum, ein deutscher Jurist, als Vertreter der Anklage.
Die »von Amts wegen« bestellten Pflichtverteidiger der nicht vorbestraften und zudem nicht Deutsch sprechenden Italiener werden im Urteil nicht erwähnt. Schon darin zeigt sich die Missachtung des Rechtsschutzes, des Schutzes vor staatlicher Gewalt und Willkür.
Wussten die Verteidiger, dass Urteile zumeist schon vor Beginn der Strafverhandlungen feststanden? Sie wussten zumindest, dass Berufungen gegen die »im Namen des deutschen Volkes« gefällten Urteile nicht zulässig waren.
Das »Sondergericht« war politische Strafjustiz: ein Schnellgericht, das in erster und letzter Instanz Verordnungen der kriegführenden Diktatur exekutierte, somit Teil ihrer Kriegsverbrechen war.
Während der NS-Herrschaft in Österreich wurde – befremdlich aus heutiger Sicht – nach wie vor österreichisches Recht angewendet, aber zumeist in Verbindung mit speziellen Kriegsverordnungen des »Ministerrats für Reichsverteidigung« unter Hermann Görings Vorsitz, und im Konkreten mit der »Verordnung gegen Gewaltverbrecher« vom 5. Dezember 1939, auf deren Grundlage die Todesstrafe auch für Widerstand gegen die Staatsgewalt verhängt werden konnte – jedoch im Widerspruch zum damals gültigen österreichischen Strafgesetz: die Höchststrafe von fünf Jahren Haft für Widerstand gegen die Staatsgewalt, falls dabei Waffen benutzt wurden, und die Todesstrafe ausschließlich für Mord.
Um Todesurteile fällen zu können, musste das »Sondergericht« die Verwendung von Zaunlatten als »Hiebwaffen« gegen den Gendarmen, den Todesschützen, als erwiesen ansehen, wobei Versuch und Beihilfe gleich wie die vollendete Tat geahndet werden konnten.
Die Faktenlage war allerdings selbst für die NS-Richter mehrdeutig. Aus diesem Grund und vermutlich in Abstimmung mit dem Oberstaatsanwalt verurteilte das »Sondergericht« Salzburg am 2. August 1944 nur drei der fünf angeklagten Italiener zum Tode, und zwar wegen öffentlicher Gewalttätigkeit – Widerstand gegen die Staatsgewalt – nach §§ 81 und 82 des österreichischen Strafgesetzes in Verbindung mit § 1 Abs. 1 der »Verordnung gegen Gewaltverbrecher«, weil »diese Gesetzesstelle zwingend die Todesstrafe vorsieht« (Urteil KLs 76/44).
Der 22-jährige Pietro PIRONI, der 20-jährige Giuliano SBIGOLI und der 32-jährige Remo SOTTILI wurden am 19. August 1944 in das Strafgefängnis München-Stadelheim transferiert, dort am 29. August 1944 um 17.01, 17.03 und 17.05 Uhr – im zwei-Minuten-Takt – mit dem Fallbeil des Scharfrichters Johann Reichhart geköpft.
Die Anatomie Erlangen erhielt die drei Leichname zwecks medizinischer Verwertung, was den Hinterbliebenen verschwiegen wurde.
Nach Kriegsende versuchte daher die Mutter des Giuliano SBIGOLI in Erfahrung zu bringen, ob ihrem Sohn das Sterbesakrament gespendet worden sei und wo sich sein Grab befinde: »Sie würden einer Mutter einen großen Trost bereiten.«
Sie erhielt zumindest das erkennungsdienstliche Foto ihres Sohnes, das sich in seiner Vollstreckungsakte befand.
Die »in Ermangelung von Beweisen« freigesprochenen Angeklagten Goffredo BONCIANI und Vasco POGGESI wurden nicht freigelassen, vielmehr der Gestapo übergeben, zunächst in das am Rudolfsplatz, dem Justizgebäude gegenüberliegende Polizeigefängnis gesperrt und am 28. September 1944 in das Konzentrationslager Flossenbürg deportiert: »Schutzhäftlinge« Nr. 27282 und Nr. 27283.
Am 23. Oktober 1944 wurde POGGESI nach Mauthausen und weiter in das Außenlager Gusen verlegt, dort 22-jährig am 4. Februar 1945 ermordet.
Am 26. Februar 1945 kam der 23-jährige BONCIANI in Lengenfeld, in einem Außenlager von Flossenbürg zu Tode.
Vor der Befreiung Italiens und Österreichs waren folglich alle sechs der an der Flucht über den Krimmler Tauern gehinderten Italiener tot – damit nicht genug.
Anhand der Häftlingskarten des »SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes« lässt sich feststellen, dass in den anderthalb Kriegsjahren vom 8. September 1943 bis zur Befreiung Italiens mindestens 29 Italiener, darunter Aktivisten der »Resistenza italiana«, von der Gestapo Salzburg in diverse Konzentrationslager deportiert wurden, wovon außer BONCIANI und POGGESI noch nachweislich 18 zu Tode kamen:
• Vincenzo Bottaro, geb. 21. April 1922 in Mailand
• Natalio Brizzi, geb. 28. Dezember 1915 in Rom
• Silvestro Chinellato, geb. 19. November 1910 in Mogliano (Veneto)
• Roviglio Della-Schiava, geb. 5. Oktober 1914 in Sedegliano (Udine)
• Anacleto De Martin, geb. 6. November 1918 in Tarzo (Treviso)
• Giuseppe Marcon, geb. 6. August 1923 in Vicenza
• Amilcare Martelli, geb. 14. Juni 1923 in Malalbergo (Bologna)
• Giuseppe Massani, geb. 29. Juli 1902 in Fucecchio (Florenz)
• Domenico Musso, geb. 23. August 1903 in Ribera (Sizilien)
• Paolo Santoni, geb. 22. Oktober 1912 in Force (Ascoli Piceno)
• Salvatore Savarino, geb. 2. Jänner 1893 in Aragona (Sizilien)
• Alfredo Veruso, geb. 26. Dezember 1920 in Fiume (Rijeka)
• Carlo Vitale, geb. 31. Jänner 1910 in Neapel
• Angelo Vogrig, geb. 7. September 1912 in San Leonardo (Udine)
• Evaristo Zalambani, geb. 23. Mai 1901 in Fusignano (Ravenna)
• Santo Zampieri, geb. 29. Juni 1912 in Venedig
• Luigi Zanga, geb. 15. Oktober 1912 in Albano (Bergamo)
• Emilio Zanon, geb. 24. Juli 1896 in San Michele (Veneto)
Dokumentierte Todesorte der bislang ermittelten 20 Gestapo-Häftlinge aus Salzburg sind: Natzweiler-Struthof, Dachau, Neuengamme, Flossenbürg, Lengenfeld, Mauthausen, Melk, Gusen und Ebensee.
In der Endphase des Krieges verhängte das »Sondergericht« Salzburg unter dem Vorsitz von Dr. Klemenz und Dr. Tusch – als Beisitzer fungierten Dr. Altrichter und Niedermayr – noch drei Todesurteile gegen Italiener: Arcangelo PESENTI, Zwangsarbeiter der Deutschen Reichsbahn in Salzburg, geköpft am 31. Jänner 1945 in München-Stadelheim (für ihn wurde am 27. Jänner 2015 beim Hauptbahnhof Salzburg ein »Stolperstein« verlegt); Domenico Vallebona und Guerrino Bozzato, Zwangsarbeiter in Kaprun, geköpft am 9. März 1945 bzw. 10. April 1945 in München-Stadelheim und bestattet auf dem italienischen Militärfriedhof in München.
Somit insgesamt sechs vollstreckte Todesurteile gegen Italiener – summa summarum 26 Italiener einschließlich der Gestapo-Opfer, verfolgt aus Rache am »Badoglio-Verrat«, am Frontwechsel und Befreiungskampf der »Resistenza italiana«, währenddessen Mussolinis »Schwarze Brigaden« und SS-Kommandos Vergeltung übten, Partisanen und Zivilisten erschossen oder erhängten: etwa 31 jugendliche Geiseln am 26. September 1944 in Bassano del Grappa auf Befehl des SS-Obersturmführers Herbert Andorfer, dessen SS-Karriere 1933 als Mitglied der SS-Standarte 76 in Salzburg begann, wo er mit seiner Familie lebte, seinen Lebensabend unbehelligt verbringen konnte und 92-jährig am 17. Oktober 2003 starb, bestattet auf dem Kommunalfriedhof.
In Salzburg bedurfte es langer Recherchen, um die Identität der italienischen Terroropfer zu klären, da diese weder im Polizeimelderegister noch in der 1991 publizierten Dokumentation Widerstand und Verfolgung in Salzburg 1934-1945 aufscheinen.
Gleiches gilt für Wehrmachtssoldaten, die sich dem italienischen Befreiungskampf angeschlossen hatten: aus Salzburg Johann SCHUCHLENZ, wegen »Kriegsverrats« von einem SS-Kommando liquidiert, fünfzehn Tage vor der deutschen Kapitulation in Italien.
Es heißt, dass mit der Befreiung die Verfolgung von Kriegsverbrechen begann, sofern die Täter gefasst werden konnten.
Auf der im Juni 1946 veröffentlichen »Ersten Salzburger Kriegsverbrecherliste« – eine weitere existiert nicht – stehen 24 Namen, zumeist Gestapo-Leute, jedoch keine Staatsanwälte und Richter. Waren sie über jeden Verdacht erhaben?1
1 Im Mai 1945 ließ die US-Militärregierung alle Gerichte in Salzburg schließen und jene Juristen ihres Dienstes entheben, die Führungspositionen innehatten und/oder der NSDAP und ihren Gliederungen angehört hatten: den Leiter der Anklagebehörde Oberstaatsanwalt Dr. Stephan Balthasar, die Staatsanwälte Dr. Friedrich Blum, Dr. Ludwig Gandolfi, Anton Heim und Dr. Friedrich Stainer, den Präsidenten des »Landgerichtes« Salzburg Walter Lürzer, die Richter Dr. Matthias Altrichter, Dr. Paul Kemptner, Dr. Karl Klemenz, Josef Hinterholzer, Anton Niedermayr, Dr. Julius Poth, Dr. Franz Tusch, Dr. August Rigele, Dr. Oskar Strauß und Dr. Ferdinand Voggenberger.
Einige entlassene Juristen waren im US-Camp M. W. Orr – bekannt als Lager Glasenbach – interniert. Einige befanden sich vor 1945 schon im Ruhestand: zum Beispiel Dr. Hans Meyer als Vorsitzender des »Sondergerichtes« von 1939 bis 1943 und Oskar Sacher als Vorsitzender der Strafsache »Rassenschande« sowie als Beisitzer des »Sondergerichtes« bis Juli 1943.
Kein Jurist wurde je für ein Todesurteil zur Verantwortung gezogen: 71 Todesurteile insgesamt, 26 unter dem Vorsitz von Dr. Hans Meyer und 45 unter dem Vorsitz von Dr. Karl Klemenz und Dr. Franz Tusch. Dabei fungierten neun Richter als Beisitzer: Dr. Matthias Altrichter, Josef Hinterholzer, Walter Lürzer, Dr. Hubert Meder (gest. 1945), Anton Niedermayr, Dr. Julius Poth, Dr. August Rigele, Oskar Sacher und Dr. Oskar Strauß. Ein Hauptverantwortlicher war Dr. Balthasar als Leiter der Anklagebehörde, seit 1933 NSDAP-Mitglied und SS-Sturmbannführer, deshalb als »belasteter« Nationalsozialist eingestuft, aber 1950 vom Bundespräsidenten Karl Renner begnadigt.
Die meisten Juristen waren Nutznießer der »Minderbelastetenamnestie« (1948). Jüngeren Jahrgängen gelang es, ihren Beruf wieder auszuüben: zum Beispiel Dr. Poth, Dr. Rigele, Dr. Tusch und Dr. Voggenberger als Rechtsanwälte, Dr. Gandolfi zunächst als Verwaltungsjurist am Magistrat, schließlich als Richter in Salzburg und Linz. Dr. Karl Klemenz, der an mindestens 29 Todesurteilen mitgewirkt hatte, aber nicht als NSDAP-Mitglied registriert war, nur als »Parteianwärter« galt, war bereits 1947 wieder Richter, allerdings am Kreisgericht Leoben.
Er machte politische Karriere im »Verband der Unabhängigen«, der Interessenvertretung ehemaliger Nationalsozialisten, und avancierte 1949 zum Abgeordneten des Bundesrates, der zweiten Kammer des österreichischen Parlaments.
Dr. Matthias Altrichter, der als Beisitzer an nachweislich 32 Todesurteilen mitgewirkt hatte, galt trotz seiner NSDAP-Mitgliedschaft (1. Mai 1938: Nr. 6,347.572, somit innerhalb des für »Altparteigenossen« reservierten Nummernblocks 6,100.001 bis 6,600.000), trotz seiner SA- und SS-Mitgliedschaft (SA-Oberscharführer, förderndes Mitglied der SS Nr. 1,403.697) und trotz seiner kommissarischen Leitungsfunktionen im NS-Gaurechtsamt und NS-Rechtswahrerbund als »minderbelastet«.
Er war nach seiner Amnestierung wieder Richter, Senatsvorsitzender, von 1958 bis 1968 Präsident des Landesgerichtes Salzburg und überdies geehrt: Großes silbernes Ehrenzeichen der Republik Österreich, Ring der Stadt Salzburg (Amtsblatt der Landeshauptstadt Salzburg vom 15. 5. 1969).
Langes Schweigen herrschte über ein Opfer der Salzburger Justiz: der im März 1938 »beurlaubte« Oberlandesgerichtrat Johann LANGER hatte im KZ Dachau seinem Leben ein Ende gesetzt.
Am 28. August 2008 konnte vor seiner letzten Wohnadresse in Salzburg im Beisein des Vizepräsidenten des Landesgerichtes Dr. Philipp Bauer ein »Stolperstein« verlegt werden.
Bei dieser Gelegenheit verlangte Dr. Bauer, dass die Geschichte der Salzburger Justiz unter dem NS-Regime und die personellen Kontinuitäten nach 1945 aufgearbeitet werden sollten. Der Anfang ist getan.
Quellen
- Stadt- und Landesarchiv Salzburg
- Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (Vollstreckungsakten JVA 543, 612, 619)
- NS-Dokumentationszentrum München
- SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (Häftlingskarten Gestapo Salzburg)
- Enciclopedia dell’antifascismo e della Resistenza
- Claudio Riva: Pietro Pironi – ribelle per amore (Cesena 2007)
- Sonia Residori: Il massacro del Grappa (Verona 2007)
Stolperstein
verlegt am 28.09.2017 in Salzburg, Rudolfsplatz 2
Quelle: Staatsarchiv München »VINCEREMO« – Postkarte von Marisa Maraldi an Pietro Pironi
Quelle: Staatsarchiv München Rückseite der Postkarte von Marisa Maraldi an den in der Todeszelle sitzenden Pietro Pironi
Quelle: Staatsarchiv München Kuvert, in dem die Post an den mittlerweile hingerichteten Pietro Pironi nachgeschickt wurde
Quelle: Staatsarchiv München Todesurteil des Sondergerichtes Salzburg vom 2. August 1944
Quelle: Staatsarchiv München Todesurteil des Sondergerichtes Salzburg vom 2. August 1944
Quelle: Staatsarchiv München Todesurteil des Sondergerichtes Salzburg vom 2. August 1944
Quelle: Staatsarchiv München Die Richter des Sondergerichtes Salzburg, Georg-von-Schönerer-Platz 2
Quelle: Salzburger Landesarchiv Das Symbol der NS-Zivil- und Militärjustiz: Richtschwert mit Parteiadler und Hakenkreuz Gedenktafel am Salzburger Landesgericht
Foto: Gert Kerschbaumer