Helene THIMIG, am 5. Juni 1889 in der Haupt- und Residenzstadt Wien geboren und in der Lutherischen Stadtkirche getauft, war das erste von vier Kindern des Ehepaares Fanny, geborene Hummel, und Hugo Thimig.
Der Familienvater war Schauspieler und Regisseur, zeitweilig auch Direktor des Burgtheaters. Seine Kinder Helene, Hermann und Hans ergriffen denselben Beruf: eine legendäre Wiener Theaterfamilie, gut vernetzt mit dem Theatermacher Max REINHARDT in Berlin, Salzburg und Wien.
REINHARDT engagierte Helene THIMIG noch während des Ersten Weltkrieges an sein Deutsches Theater in Berlin. Damit begann eine über die künstlerische Zusammenarbeit hinausgehende innige Partnerschaft, die über alle politischen Brüche hinweg ein Vierteljahrhundert währte.
Die zeitgenössische Kritik wusste zumindest, dass Max REINHARDT seinen im August 1920 vor dem Salzburger Dom inszenierten Jedermann vornehmlich mit Mitgliedern seines Berliner Ensembles – die Titelrolle mit seinem Bühnenstar Alexander MOISSI – besetzte. Helene THIMIG spielte die Rollen »Gute Werke« (1920 und 1921) und »Glaube« (1927 bis 1937, außerdem 1946 bis 1951 und 1963 bis 1965).
Helene THIMIGs Rollen im Salzburger Jedermann sind Personifikationen des christlichen Glaubens, die als Begleiterinnen eines reichen Sünders fungieren, der letztendlich zum Glauben findet und durch die Gnade Gottes gerettet wird – in Max REINHARDTS origineller Inszenierung vor der barocken Schaufassade des Domes, auf dessen Giebel die Figur »Salvator Mundi« (Christus als Erlöser oder Retter der Welt) emporragt.
Nüchtern ist festzuhalten, dass Helene THIMIG in den Festspielsommern 1920 bis 1937 in elf Stücken mitwirkte und die Titelrolle in Turandot, Iphigenie auf Tauris und Stella spielte. Die besten Kritiken erhielt sie für ihre Lieblingsrollen »Iphigenie« und »Stella«:
Die Stella ist eine wundervolle Aufgabe für Frau Helene Thimig.
Wiener Zeitung, 20. 8. 1931, S. 2
Wiener Kritiker vergaßen nicht zu erwähnen, dass die eine oder andere Festspiel-Aufführung eine Inszenierung Max REINHARDTS am Theater in der Josefstadt sei. Das Wiener Theater, das REINHARDT als Direktor im April 1924 mit Goldonis Der Diener zweier Herren eröffnete, hieß alsbald »Thimig-Theater«. Darin zeigt sich die Präsenz und Beliebtheit der Wiener Theaterfamilie.
REINHARDTS Inszenierung der italienischen Komödie Der Diener zweier Herren in der damals offenen Felsenreitschule war allerdings ein Wagnis. Sie war dort der Wetterlaune ausgesetzt und dennoch ein großer Erfolg dank der Auftritte Helene THIMIGs als »Smeraldina«, ihres Vaters Hugo als »Pantalone« und ihrer Brüder Hermann und Hans als »Truffaldino« und »Florindo« – bestes Wiener »Thimig-Theater« bei den Salzburger Festspielen 1926.
Salzburg präsentierte sich überdies als einzigartiger Schauplatz der großen Welt, der barocken Welt Gottes. Calderóns Mysterienspiel Das große Welttheater hat in der Nachdichtung Hugo von Hofmannsthals einen Titel mit Eigennamen: Das Salzburger große Welttheater. Premiere war am 13. August 1922 in der barocken Kollegienkirche Fischer von Erlachs.
REINHARDT inszenierte Hofmannsthals Mysterienspiel mit den von Gott als »Meister« bestimmten Rollen, die Personifikationen sind. Helene THIMIG spielte die Rolle »Weisheit« erstmals im Festspielsommer 1922, ein weiteres Mal bei der feierlichen Eröffnung des Festspielhauses am 13. August 1925 und zum letzten Mal in der Reichshauptstadt Berlin kurz nach dem Machtanritt Adolf Hitlers im Jahr 1933.
Hofmannsthals Das große Welttheater (ohne den Eigennamen »Salzburger«) war REINHARDTS letzte Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin – vor einem gespenstisch aktuellen Hintergrund: Das Berliner Reichstagsgebäude brannte, als die Generalprobe stattfand. Premiere war am 1. März 1933.
Auf der Berliner Bühne werden Worte des Dichters Hugo von Hofmannsthal gesprochen, die im realen Leben eine existenziell bedrohliche Bedeutung haben:
Du, der des Königs Rolle hat, tritt ab! Dein Part ist ausgespielt! Geh von der Bühne!
REINHARDT musste sein Theater und Berlin noch im März 1933 verlassen, und mit ihm Helene THIMIG. In Salzburg spielte sie neben ihrer Lebensrolle »Glaube« den »Bösen Geist« in Goethes Faust, in den Kritiken nur beiläufig erwähnt. Alle Augen richteten sich auf die jüngere Paula Wessely als »Gretchen«.
Goethes Faust war Max REINHARDTS letzte Inszenierung bei den Salzburger Festspielen. Premiere war am 17. August 1933 in der »Fauststadt« der offenen Felsenreitschule. Ein Wiener Kritiker schwärmte – trotz des Schnürlregens – vom »salzburgischen Faust«:
Hier war durch die alte erzbischöfliche Felsenreitschule mit ihrem dreifach in den Stein gehauenen Loggien ein Schauplatz geboten, wie er wohl in keiner anderen Stadt sich findet. (…)
In der Entwicklung der Salzburger Festspiele bildet diese »Faust«-Aufführung einen denkwürdigen Abschnitt. Sie ist ein Gipfel, diese »Faust«-Aufführung, nicht bloß innerhalb der salzburgischen Atmosphäre, sondern ein unerreichbar hoher Gipfel in der deutschen, in der europäischen Theaterkunst. f. s.
Neue Freie Presse, 18. 8. 1933, S. 6
In den Festspielsommern diente REINHARDTS Schloss Leopoldskron als Tribüne mondäner Cercles. Seine Scheidungsquerelen mit seiner ersten Frau wurden hingegen fern von Salzburg ausgetragen. Als diese im Juni 1935 ihr Ende fanden, heiratete er 61-jährig seine 46-jährige Lebenspartnerin Helene THIMIG auf ihrer Amerikareise in Reno (Nevada).
Im Rückblick wissen wir, dass Helene und Max REINHARDT 1937 ihren letzten gemeinsamen Festspielsommer erlebten. Am 5. Oktober 1937 feierten beide mit Franz Werfel die Premiere seines Schauspiels In einer Nacht im Theater in der Josefstadt.
Helene THIMIG hatte noch bis Ende Oktober ihre Auftritte in Wien, eilte daraufhin nach Le Havre und reiste mit dem Transatlantikliner Normandie nach New York, am 8. November 1937 von ihrem Ehemann erwartet.
Das Ehepaar THIMIG-REINHARDT erhielt bereits im November 1940 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Doch beiden war kein Glück beschieden. Am 31. Oktober 1943 starb Max REINHARDT 70-jährig.
In Hollywood blieb seiner Frau Helene THIMIG eine Karriere verwehrt. Sie musste sich mit kleinen Filmrollen begnügen, spielte vorwiegend deutsche Frauen, zum Beispiel »Frau Anders« in Fred Zinnemanns Film The Seventh Cross (1944) nach dem antifaschistischen Roman »Das siebte Kreuz« von Anna Seghers.
In der am 4. Mai 1945 von US-Truppen befreiten Festspielstadt Salzburg stand nicht der antifaschistische Widerstand ganz oben auf der Agenda, vielmehr die Wiederbelebung der alten Glanzzeiten vor dem Gewaltjahr 1938.
Die Inszenierung des restaurativen Vorhabens oblag der US-Kulturmission, der Theater- und Musikabteilung des Information Services Branch (ISB). Ihr Chef war Dr. Ernst Lothar, ehemals Direktor des Theaters in der Josefstadt, Vertriebener, US-amerikanischer Staatsbürger und Kulturoffizier.
Dr. Lothar war es auch, der die Rückkehr Helene THIMIGs aus den USA und ihren Empfang am 31. Juli 1946 auf dem Salzburger Hauptbahnhof arrangierte – als Auftakt zu den Salzburger Festspielen:
Triumphale Rückkehr Helene Thimigs nach Salzburg.
Wiener Kurier, 1. 8. 1946, S. 8
Es war eine Huldigung, die sonst nur einer Königin entgegengebracht wird: eine Menschentraube, Politiker, Freunde, Verehrer und Reporter, Mikrofone, Kameras und Scheinwerfer, die bei der Ankunft der Helene THIMIG – weder Jüdin noch politisch Verfolgte – aufflammten, und Dr. Lothar, der die lächelnde Witwe als legitime Erbin und Überbringerin der völkerverbindenden Ideen und Regiekunst Max REINHARDTS begrüßte. Abschließend sagte er:
Wir freuen uns, dass Sie hier sind. Mit Ihnen kehrt Max Reinhardt zurück.
Max REINHARDT starb als vertriebener Jude im Exil. In Salzburg wurde er beraubt. Das sagte jedoch niemand in der Öffentlichkeit. Dem US-Kulturoffizier Dr. Lothar ist es dennoch zu verdanken, dass der Salzburger Jedermann nach siebenjähriger Verbannung zurückkehrte, und mit ihm sein toter Inszenator als Mythos.
Sein erster »Jedermann« (Titelrolle) in Salzburg war sein Bühnenstar Alexander MOISSI. Den ersten »Jedermann« nach der Befreiung Salzburgs spielte Ewald Balser – mit dem 1938 verliehenen Titel »Staatsschauspieler«. Er stand außerdem auf der Liste der »Gottbegnadeten« des Propagandaministers Goebbels. Das wollte im befreiten Salzburg niemand wissen.
Helene THIMIGs Auftritt als »Glaube« vor der Schaufassade des Domes, auf dessen Giebel Christus als Erlöser der Welt emporragt, muss hinreißend gewesen sein, wenn Zeno von Liebl im Wiener Kurier schreibt:
… Als wären niemals dunkle Wolken über dieser Stadt gestanden, strahlte gestern das seidene Zelt eines blauen Himmels (…).
Der große Augenblick der Aufführung war die Wiederbegegnung mit Helene Thimig. Wie weggewischt war das Böse, das Traurige der Vergangenheit, weggebrannt von der unendlich reinen, keuschen und hellen Flamme ihres Wesens.
Wiener Kurier, 5. 8. 1946, S. 4
Es scheint, dass Helene THIMIG als nonnenhafte Frau mit reinem Gewissen das Wunder vollbringen konnte, die Festspielstadt vom bösen Geist der jüngsten Vergangenheit zu erlösen, zumindest auf Spieldauer.
In elf Festspielsommern betreute Helene THIMIG den Jedermann als Regisseurin im Geiste REINHARDTS. Selbst in ihren Memoiren schrieb sie vornehmlich über ihren verstorbenen Mann:
Wie Max Reinhardt lebte … eine Handbreit über dem Boden (1973).
Helene THIMIG stand bis in ihr 85. Lebensjahr auf der Bühne und starb am 7. November 1974 in Wien, mehrfach ausgezeichnet und hochverehrt.
In Wien erinnert an Helene THIMIG ein nach ihr benannter Weg. Im öffentlichen Raum der Festspielstadt Salzburg existiert ihr Name nicht.
Quellen
- Archiv der Salzburger Festspiele
- Stadt- und Landesarchiv Wien
- Stadt- und Landesarchiv Salzburg
Stolperstein
verlegt am 17.08.2020 in Salzburg, Max-Reinhardt-Platz