Marie »Mitzi« PIRAK, geboren am 30. August 1901 in Salzburg, war das erste von vier Kindern des jüdischen Ehepaares Gisela, geborene Haas, und Leopold PIRAK, das im Jahr 1899 von Brünn (Brno) in Mähren, damals Österreich-Ungarn, nach Salzburg zugezogen war.
Die Familie PIRAK, die nach altösterreichischem Recht in Salzburg heimatberechtigt war, wohnte im Eckhaus Wolf-Dietrich-Straße 2 / Linzer Gasse 53, das im Eigentum der Geschäftsfrau Gisela PIRAK war, jedoch im Krisenjahr 1920 verkauft werden musste.1
Das Haus blieb allerdings bis zum Gewaltjahr 1938 Wohn- und Geschäftssitz der Familie PIRAK. Im 1. Stock befand sich ihre Wohnung und im Parterre ihr Konfektions- und Modegeschäft.
Der Ehemann und Vater Leopold PIRAK, ein Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg, starb 63-jährig am 23. März 1927, bestattet auf dem jüdischen Friedhof in Aigen bei Salzburg – ein Grab mit der Inschrift »Tief betrauert von Gattin und Kindern«.
Am 19. August 1928 konnte Rabbiner Dr. Manfred Papo2, ehe er nach Wien ging und die jüdisch-sephardische Gemeinde betreute, noch eine Trauung in der Salzburger Synagoge vollziehen: Marie PIRAK, die eine Handelsschule absolviert hatte und im Geschäft ihrer Mutter arbeitete, heiratete den Handlungsreisenden Oskar Szijo SCHMALZBACH, geboren am 6. Dezember 1890 in Jaroslau, damals Österreich-Ungarn (seit 1918 bei Polen), der in Wien lebte, die Staatsbürgerschaft der Republik Österreich aber nicht erhielt und daher als staatenlos galt.
Am 11. August 1929 wurde ihr Sohn Herbert geboren, registriert in der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.
Da Oskar SCHMALZBACH als Handlungsreisender viel unterwegs war, lebte seine Frau Marie mit ihrem Sohn Herbert zumeist bei ihrer Mutter Gisela PIRAK und ihren noch ledigen Geschwistern Erna, Friedrich und Alfred in Salzburg.
Die hier am 13. April 1903 geborene Erna war Verkäuferin und Schneiderin.
Der am 14. Jänner 1905 geborene Friedrich war Handelsangestellter, überdies Mitglied der zionistischen Ortsgruppe und des Kultusrates der jüdischen Gemeinde in Salzburg.
Der am 31. Dezember 1906 geborene Alfred war gelernter Automechaniker und als Chauffeur tätig.
Die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre bekamen speziell jüdische Geschäftsleute wegen des wachsenden Antisemitismus zu spüren. Nicht wenige gerieten in eine Notlage, sahen sich daher im Gewaltjahr 1938 gezwungen, ihre Betriebe so rasch wie möglich und unter ihrem Wert zu verkaufen.
Die Witwe Gisela PIRAK war eines dieser Opfer. Ihr Geschäft, begehrt wegen seiner guten Lage, konnte sich im Juni 1938 ein Salzburger Kleiderhändler aneignen. Im November 1938 musste die Familie PIRAK auch ihre Wohnung im 1. Stock des Hauses Linzer Gasse 53 räumen. Nutznießer war ein Funktionär der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV).
Kaum erforscht sind bislang die Lebensbrüche der Opfer. Gisela PIRAKS Sohn Alfred war einer der 26 Juden, die nach der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Salzburg verhaftet, ins KZ Dachau deportiert und mit der Auflage freigelassen wurden, das »Deutsche Reich« umgehend zu verlassen.
Schon Ende November 1938 befanden sich alle Familienmitglieder in ihrem Fluchtort Wien.
Noch im Laufe des Jahres 1939 gelang der 68-jährigen Witwe Gisela PIRAK und ihren Kindern Erna, Friedrich und Alfred die Flucht in die freie Welt, ins Exil. Friedrich war der erste, der New York mit einer Schiffspassage über Gothenburg in Schweden erreichte.
Alfred schaffte es als zweiter über Liverpool in England. Gisela PIRAK und ihre Tochter Erna, die während des Krieges in London blieben, emigrierten im August 1945 nach Sandusky in Ohio, wo Friedrich PIRAK sein Domizil hatte. Die Witwe Gisela PIRAK starb 80-jährig 1951 in Cleveland, Ohio.
Ihr Sohn Friedrich, verheiratet mit einer Jüdin aus Linz, starb 1971 in Cleveland. Ihre Tochter Erna, verehelichte ORNSTEIN, starb 1981 in Mayfield Heights, Ohio, und ihr Sohn Alfred, verheiratet mit einer Jüdin aus Mistelbach in Niederösterreich, starb 1983 in Hallandale, Florida – drei der vier in Salzburg geborenen Geschwister.
Gisela PIRAKS Tochter Marie, ihr Ehemann Oskar SCHMALZBACH und ihr Sohn Herbert, die vermutlich mangels Staatsangehörigkeit keine Visa für die USA und Großbritannien erhielten, gelangten im Februar 1939 nach Paris und im Laufe des Kriegsjahres 1940 in den Süden Frankreichs, in die vom NS-Regime unbesetzte »Zone libre«.
In Allez-et-Cazeneuve, einem Ort des Départements Lot-et-Garonne, verwaltet vom Kollaborationsregime unter Marschall Philippe Pétain in Vichy, fand die Flüchtlingsfamilie eine Bleibe, doch vergeblich auf Transitvisa und Schiffspassagen in die freie Welt wartend.
Die Familie SCHMALZBACH wurde im Laufe des Kriegsjahres 1942 verhaftet, im Camp de Casseneuil interniert und in das Camp de Drancy bei Paris transferiert, wo die SS von 1942 bis 1944 ihre Transporte in die Vernichtungslager Auschwitz, Majdanek und Sobibor organisierte: insgesamt 79 Konvois, Todeszüge mit rund 76.000 jüdischen Kindern, Frauen und Männern.
Im Transport Nr. 30, der am 9. September 1942 Camp de Drancy verließ, befanden sich der 52-jährige Oskar SCHMALZBACH, seine 41-jährige Frau Marie und ihr 13-jähriger Sohn Herbert. In den Lagerbüchern von Auschwitz ist jedoch allein Oskar SCHMALZBACH registriert: Tod am 27. Jänner 1943. Seine Ehefrau und ihr Sohn wurden vermutlich gleich nach ihrem Zugang in Auschwitz-Birkenau vergast.
Alle drei Shoah-Opfer sind in der israelischen Datenbank Yad Vashem eingetragen, Oskar SCHMALZBACH auch in der österreichischen Datenbank (DÖW).
Hier fehlen also die in Salzburg geborene Marie PIRAK und ihr Sohn Herbert, ein zusätzlicher Grund, beide im Gedächtnis der Stadt Salzburg zu behalten.
1 Eigentümer der Liegenschaft Linzer Gasse 53 / Wolf-Dietrich-Straße 2 war seit 1920 der Schweizer Staatsbürger Eugen Weil, der unter dem NS-Regime im Verzeichnis jüdischer Liegenschaften stand, aber nicht enteignet wurde. Seine Erbinnen Johanna Picard-Weil und Dr. Elly Feinberg-Weil verkauften das Haus im Jahr 1966 (Grundbuch Salzburg Schallmoos EZ 285).
2 Dr. Manfred Papo, geb. 17. Oktober 1898 in Wien, war von 1925 bis 1928 Rabbiner in Salzburg, bis 1938 Rabbiner in Wien und St. Pölten, hernach in Manchester und Salisbury, gest. 15. Mai 1966 in Wien; seine Mutter Laura Papo und Schwestern Rachel und Elfriede sind Shoah-Opfer.
Quellen
- Stadt- und Landesarchiv Salzburg
- Wiener Stadt- und Landesarchiv
- Israelitische Kultusgemeinde Wien
- Yad Vashem
- ANCRAGE, la mémoire des méttissages du Sud-Quest est édité par l’association Ancrage en Partage
- Serge Klarsfeld: Le calendrier de la persécution des juifs en France, Paris 2001
- Serge Klarsfeld: Vichy – Auschwitz, Paris 2001
Stolperstein
verlegt am 18.04.2013 in Salzburg, Linzer Gasse 53